Am 16. April entscheidet die Türkei in einer Volksbefragung, ob ein Präsidialsystem die Macht von Präsident Recep Tayyip Erdoğan stärken wird. „Im Zuge des Wahlkampfes muss mit erhöhten politischen Spannungen und Protesten gerechnet werden, die sich auch gegen Deutschland richten können“, warnt das Auswärtige Amt. Müssen sich Deutsche in der Türkei jetzt fürchten? Wir haben drei Studenten gefragt. Sie berichten uns aus ihrem Alltag zwischen Erdogan-Anhängern, Willkommenskultur und islamistischen Angriffen auf dem Campus. Marlene: "Die Einheimischen wissen zu schätzen, dass ich überhaupt hier bin." "Es war ein warmer Septembertag, zu Beginn meines Auslandssemesters in Istanbul. Nach meinem Sprachkurs saß ich an der Bushaltestelle, als mich ein Mann fragte, woher ich komme. „Almanya“ – Deutschland, sagte ich. Er lächelte. Da war er auch mal, sagte er in gebrochenem Deutsch – und seine Familie sei es auch heute noch. Dann zückte er sein Handy und zeigte mir alle Mitglieder seiner Großfamilie, die momentan in Deutschland sind: Die Schwester in Hamburg, der Onkel in Köln, die Cousine in Freiburg. Bevor ich in meinen Bus einsteigen konnte, wollte er sich noch einer Sache vergewissern: Ob mir Istanbul denn auch gefalle? Ich nickte. „Tabii ki“ – selbstverständlich! Und er antwortete: „O zaman hoş geldiniz! “ – Na dann, herzlich willkommen! Terror und der Putschversuch kosten die Türkei 8,5 Milliarden Euro Die türkische Antwort darauf lautet „Hoş bulduk“, das bedeutet wörtlich so viel wie „Ich habe die Freude empfangen“. Und ja, ich empfange die Freude hier – Tag für Tag. Auch jetzt, wo der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gegen die deutsche Regierung hetzt und unseren Politikern "Nazipraktiken" vorwirft? Ja, gerade jetzt – denn die Einheimischen wissen besonders zu schätzen, dass ich überhaupt hier bin. Touristen und Austauschstudenten werden in der Türkei immer seltener. Im vergangenen Jahr sanken die Einnahmen der türkischen Tourismusbranche um fast 30 Prozent im Vergleich zu 2015. Das zeigen Zahlen der Türkischen Statistikbehörde. Zugespitzt formuliert: Die Angst der Ausländer nach den Terroranschlägen und dem Putschversuch kostete die Türkei im Jahr 2016 etwa 8,5 Milliarden Euro. Deutsche sind traditionell die größte Touristengruppe in der Türkei, allerdings buchten im vergangenen Jahr nur noch rund 3,8 Millionen ihren Urlaub im Land am Bosporus – vor zwei Jahren waren es noch rund 5,6 Millionen. Nach einem halben Jahr in Istanbul, wo ich all die politischen Konflikte direkt miterlebt habe, bin ich von der Herzlichkeit der Türken in Istanbul nicht mehr überrascht. Sie gehört zum Alltag. Da ist der Restaurantbesitzer, der mir bei einem Getränk aufs Haus von seinem ehemaligen Teppichgeschäft in Berlin erzählt. Oder der Marktverkäufer, der gesteht, manchmal deutsche Touristen erst nach der Verhandlung über den Preis mit seinen Deutschkenntnissen zu überraschen – oder spontante Bekanntschaften auf der Straße, die mittlerweile zu Freundschaften geworden sind. "Nazi-Beschimpfungen? Kenne ich nur von meinem Mitbewohner." Und wenn ich eines in Istanbul nicht erfahren habe, dann ist es Diskriminierung gegenüber Deutschen. Die einzigen Nazirufe, die ich zu hören bekomme, sind die meines türkischen Mitbewohners – wenn ich mal wieder den Müll nicht runtergebracht habe. Dass dies aber keine ernst gemeinte Anschuldigung ist, da kann ich mir sicher sein. Es ist türkischer Humor! Denn seine scherzhaft geplante „Entnazifizierung“, samt Umgestaltung meines Zimmers mit Postern von Erdoğan und osmanischen Symbolen, hat bis heute nicht stattgefunden. Und trotzdem höre natürlich auch ich die verbale Hetze Erdoğans. Sehe, wie seine Anhänger ihm zujubeln und Fahnen schwenken. So war es erst am vergangenen Wochenende in Bağcilar, dem Bezirk Istanbuls, in dem meine Universität steht. Als ich diese Bilder im Fernsehen sah, überkam mich dann doch ein mulmiges Gefühl auf dem Weg zur Uni. Vielleicht hatte ich bisher einfach nur Glück, vor der Aggression der Menschen verschont zu bleiben, die hier nach Vergeltung rufen? Natürlich kenne ich die Fotos von Nationalisten, die in ihrer Wut auf die Niederländer Orangen zerstechen und Flaggen verbrennen. Und ich lese täglich über die voranschreitende Eskalation zwischen Deutschland und der Türkei, ja sogar der Türkei mit halb Europa. Aber das sind nur die Berichte in den Medien. Meine Realität sieht anders aus. Wenn ich gemeinsam mit Türkinnen und Türken, Deutschen und Deutsch-Türken beim Tee zusammensitze, erscheinen mir diese Bilder sehr weit entfernt und fremd – obwohl sie aus meiner momentanen Studentenstadt stammen. Deutsch-türkische Beziehungen? In Istanbul erlebe ich sie überall! Ganz egal, wie sehr sich deutsche und türkische Politiker beschimpfen und über Einreiseverbote, Zahlungsstopps und Flüchtlingsdeals diskutieren – eines bleibt gewiss: Die Türkei und Deutschland sind längst nicht mehr zu trennen. Im Istanbuler Leben nimmt diese Gewissheit Gestalt an: Plakate werben für deutsch-türkische Kulturveranstaltungen mit Filmen und Musik aus beiden Nationen. In deutsch-türkischen Cafés laufen Diashows der schönsten Orte der beiden Länder. Dort bekommen deutsche Touristen Bienenstich und Brezel als Medizin gegen Heimweh. Das ganze Ausmaß des bikulturellen Lebens und all die persönlichen Geschichten, die hinter der deutsch-türkischen Geschichte stecken – so richtig begreife ich sie erst hier. Und das, obwohl sich daheim in Berlin das gleiche Kulturfest abspielt, eben nur auf einer anderen Bühne. Erdoğan ist nicht die Türkei. Merkel ist nicht Deutschland. Die politischen Zeiten sind nicht einfach. Aber abseits davon, zwischenmenschlich – zwischen Deutschen, Türken und Deutsch-Türken – da kann es manchmal einfach sein. Es braucht nur ein „Herzlich Willkommen“." Simon: "Ich bin übervorsichtig geworden." Simon studiert Politikwissenschaften und Öffentliches Recht an der Uni Mannheim und verbringt seit September 2016 sein Auslandssemester an der Bilgi-Universität in Istanbul. "Von der politischen Krise zwischen Deutschland und der Türkei merke ich persönlich nichts. Ich habe hier deshalb noch nie irgendwelche Anfeindungen erlebt, eher im Gegenteil. Aber mit meinen türkischen Kommilitonen rede ich auch wenig über Politik, weil ich übervorsichtig geworden bin und keinem meine Meinung zu brisanten Themen sagen möchte, den ich nicht näher kenne. Denn auch an unserer Uni gibt es bestimmt regierungstreue Studenten, die einen möglicherweise anschwärzen könnten. Vor zwei Wochen erst wurden vier Dozentinnen an der Fakultät für Medien entlassen. Warum genau, weiß ich nicht. Die Uni ist gegenüber Austauschstudenten nicht so offen und spielt die Ereignisse seit dem vergangenen Sommer eher herunter. Dass meine Uni wie alle anderen auch von Festnahmen und der aktuellen politischen Situation betroffen war, ist aber ein offenes Geheimnis. Einer der Dozenten hat neulich nicht erlaubt, dass seine Vorlesung mitgeschnitten wird. Man ist misstrauisch geworden. Islamistische Studenten attackierten meine Kommilitoninnen zum Weltfrauentag Auch meine eigene Jura-Dozentin steht aktuell vermutlich unter Druck. Denn sie hat im Januar 2016 eine Petition unterzeichnet, um die türkische Regierung zu Friedensgesprächen mit den Kurden aufzufordern. Einige der Unterzeichner wurden bereits festgenommen und erst im Februar gab es wieder eine Verhaftungswelle gegen Unterstützer des Aufrufs. Am 8. März, dem Weltfrauentag, haben 15 bis 20 islamistische Studenten einen Stand von Studentinnen an unserer Uni angegriffen und eine junge Frau verletzt. Die Männer fühlten sich provoziert, weil die Studentinnen während der Muezzin-Gebetsrufe Musik spielten. Ein paar der Angreifer sind von unserer Uni. Sie wurden erst verhaftet, dann aber freigelassen – und dürfen zur Empörung der meisten anderen Studierenden weiterhin bei uns studieren. Eltern, Mitarbeiter der Uni und Studenten protestieren, dass die Universitätsleitung nichts unternimmt." Stefan: "Nach dem Putschversuch wurde es mir zu riskant." "Eigentlich sollte ich jetzt in der Türkei studieren. Doch ich habe meinen Versuch, in Istanbul ein Erasmus-Semester zu machen, abgebrochen. Das entschied ich im Sommer 2016, zwei Wochen nach dem Putschversuch. Zu der Zeit kursierten erste Listen, welche Dozenten an der Uni gefeuert werden sollen. Mir wurde es zu riskant: Nicht zu wissen, ob ich an der Uni die Kurse wählen kann, die ich belegen will – und ob mir am Ende überhaupt irgendein Kurs anerkannt wird oder ich gar die finanzielle Förderung zurückzahlen muss. Deshalb habe ich mich nun für Rumänien entschieden. Liebe Grüße aus Cluj-Napoca!" Stefan Schmid erreicht ihr hier auf Twitter.