Keine Partei hat bei der Bundestagswahl so viele Stimmen verloren wie die CSU. Ausgerechnet in Bayern holte die AfD das stärkste Ergebnis im Westen. Woran liegt's? Erkundungen in der Provinz. Ach, ihr Alpen, über welch ihr Idylle ihr doch wacht! Der Brunnen plätschert gemütlich vor sich hin, das Wasser darin glasklar. Eine Frau durchstöbert die — reduzierten! — Dirndln im Trachtengeschäft, während der Gemahl im Biergarten nebenan die erste Maß des Tages trinkt. Die CSU stürzte bei der Bundestagswahl von 49 auf weniger als 39 Prozent Und in der Ferne bellt ein Hund. Scherz. In der Ferne bimmeln die Kuhglocken. Die Welt ist noch heil, hier im oberbayerischen Ruhpolding. Zumindest auf den ersten Blick. https://twitter.com/BR24/status/912038281898024961 Es ist der Dienstag nach der Bundestagswahl – bei der die Wähler die CSU zur schwächsten Kraft im Bundestag gemacht haben. Nur 38,5 Prozent der Zweitstimmen gingen an die CSU, das ist ein Verlust von mehr als zehn Prozentpunkten gegenüber den gut 49 Prozent von 2013. In Ruhpolding kommen die Christsozialen immerhin noch auf fast 48 Prozent. Aber vor fünf Jahren waren es auch hier fast fünf Prozentpunkte mehr. Im Landkreis Traunstein, zu dem Ruhpolding gehört, sieht es ähnlich aus. Der Landrat Siegfried Walch sagt: „Es wäre ja schrecklich, mit diesem Ergebnis zufrieden zu sein.“ Diese Wahl ist ein Angriff auf eine Partei, die vor bayerischem Selbstbewusstsein sonst nur so strotzt. „Die Flüchtlingspolitik hat viele Bayern unzufrieden gemacht und von der CSU zur AfD getrieben.“ Aber wer sich hier in Ruhpolding umhört, bekommt das Gefühl, dass vom Ergebnis niemand wirklich überrascht ist. Wen man auch fragt — stets ist die Quintessenz: war doch klar! Da ist ein Mann namens Klaus, der gerade die Hecken am Parkhotel frisiert. „Die CSU hat in vier Jahren Große Koalition doch gar nichts bewirken können!“ Karte: Die 7.000-Seelen-Gemeine Ruhpolding, etwa 110 Kilometer südöstlich von München. Ein paar Meter weiter verkauft eine ältere Dame in Bauernschürze Obst und Spezialitäten. Genauer: Äpfel und Schnaps. Ihren Namen möchte sie nicht nennen, ihre Meinung schon: „Ob jetzt die Flüchtlingspolitik oder die Mietpreisbremse, die CSU versteht die Leute nicht mehr.“ Sie hebt die Arme. „Ich fühle mich allein gelassen!“. Ähnlich sieht das „die Hallweger Steffi“ beim Bäcker. Erst tütet sie ein Brötchen namens „Dinkelwonne“ ein, dann sagt sie: „Mit Frau Merkel und den ganzen Asylanten, das konnte ja nicht gut gehen. Wir brauchen eine rechtere Politik.“ Ein junger Mensch ist dann doch noch aufzutreiben: Robert, Verkäufer im Sportladen. Er sieht die Dinge ähnlich: „Die Flüchtlingspolitik hat viele unzufrieden gemacht und sie zur AfD getrieben.“ Die Verluste der CSU habe er da schon „im Gefühl“ gehabt. Auch wenn keiner dieser Ruhpoldinger nach eigenen Angaben die AfD gewählt hat — sie alle sind sauer auf die CSU. Hat sich die Politik von den Wählerinnen und Wählern entfernt? Siegfried Walch weiß das. Er weiß, dass viele Wähler unzufrieden sind mit der CSU und ihrem Agieren in vier Jahren Groko. Er weiß, dass die Leute sich im Stich gelassen fühlen, nicht ernst genommen mit ihren Sorgen und Ängsten. Der Landrat von Traunstein sagt: „Natürlich müssen wir sehr selbstkritisch sein.“ https://www.facebook.com/landrat.siegfriedwalch/videos/1639957099370415/ Video: Landrat Siegfried Walch (CSU) im Wahlkampf. Aber mit „wir“ meint der 33-Jährige nicht die CSU. Er meint die ganze Union, vor allem einen „großen Teil der Führung unserer Schwesterpartei“. Also die CDU. Die nämlich habe vor allem einen folgenschweren Fehler begangen: die Flüchtlingspolitik. Der Sommer 2015, sagt Walch, hätte so niemals passieren dürfen. Die offenen Grenzen, die vielen Flüchtlinge, die ins Land kamen. Und danach habe man so getan, als wäre alles gar nicht so schlimm. Wie so viele CSU-Politiker in diesen Tagen kennt auch Walch nur dieses eine Thema: die sogenannte Flüchtlingskrise. Die sei nun einmal der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe. Wo besonders deutlich wurde: Die Diskussion in der Politik entfernt sich mehr und mehr vom Wähler. Will ihm vorschreiben, was er wahrnehmen darf und was nicht. Die Menschen in Bayern verstehen nicht, warum die Obergrenze für Flüchtlinge nicht kommt „Man hat den Menschen gesagt: Was ihr seht und denkt, ist falsch. Die vielen Flüchtlinge und die Unsicherheit sind gar kein echtes Problem.“ So habe man die Menschen „in Scharen“ zur AfD getrieben. Tatsächlich hat die Union (und nicht nur die) massig Wähler an die AfD verloren: 1,1 Millionen. https://twitter.com/BR24/status/912013351588417536 Die CSU will sich deshalb um eine „Orientierungsdebatte“ in der Union bemühen. Horst Seehofer spricht von einer „offenen Flanke nach rechts“. Die will er mit einem „Mitte-Rechts-Kurs“ schließen. Sein Innenminister Joachim Herrmann versicherte aber gegenüber dem „Deutschlandfunk“ eilig, dass das „keinen Rechtsruck“ der CSU bedeute: Man sei eben eine Partei der Mitte und der demokratischen Rechten. Ähnlich sieht das Landrat Walch. Das Problem liegt für ihn nicht in den Inhalten der CSU, sondern in ihrem Handeln: Die Menschen in Bayern kennen und teilen die Positionen der CSU. Aber sie verstehen nicht, warum die Partei das im Bund nicht umsetzen kann. Wo bleibt die Obergrenze? Warum wird der Familiennachzug nicht beschränkt? Warum sind so viele abgelehnte Asylbewerber noch im Land? „Es geht nicht darum, dass wir nach rechts rücken“, sagt Walch. „Sondern darum, dass wir unsere Ziele umsetzen.“ Handeln statt Reden. 2018 ist Landtagswahl in Bayern – und die CSU zittert In einer möglichen Koalition mit FDP und Grünen wird das sicher nicht leichter. Vor allem mit den Grünen sind die ideologischen Unterschiede groß: Für die einen sind Dieselfahrverbote ein No-Go, für die anderen die Obergrenze. Hinzu kommt der Terminkalender: Im Herbst 2018 wird in Bayern der Landtag gewählt. +++ Außerdem bei Orange: Warum eine Jamaika-Koalition das Beste ist, was Deutschland passieren kann +++ Für die CSU gilt also: Vor der Wahl ist nach der Wahl. Ein Verlust der absoluten Mehrheit im Freistaat wäre wohl nicht nur ein Kratzer am Selbstbild der Partei, den man sich schön reden kann. Getreu dem Motto: „Immerhin stärkste Kraft.“ Eine CSU unter 50 Prozent — das wäre der Supergau, der größte anzunehmende Unfall. Der Gedanke liegt nahe, dass die CSU jetzt alles Handeln auf die Landtagswahlen ausrichtet und im Bund bockig wird. Walch bestreitet das. Ohnehin ist ihm um die Mehrheit im Freistaat gar nicht so bang. Land und Bund, das seien doch zwei verschiedene Paar Schuhe! „Da haben wir ja nicht das Problem mit der Schwesterpartei.“ Und doch sagt er: „Einer Koalition mit zu vielen inhaltlichen Kompromissen sollten wir nicht beitreten.“ Damit nicht noch mehr Vertrauen verspielt wird. Vertrauen, das nicht mehr so schnell wieder kommt. https://youtu.be/OVNGAHzCEBQ?t=24s Video: So beschaulich ist Ruhpolding in Bayern. Ob Klaus mit der Kettensäge oder die namenlose Obstverkäuferin, ob die Hallweger Steffi vom Bäcker oder Robert aus dem Sportgeschäft — viele Menschen in Ruhpolding würden ihrem Landrat wohl recht geben. Der Thron der CSU wackelt. Nicht nur am Dienstag nach der Wahl. Nicht nur in Ruhpolding.