494 Euro im Westen, nur 269 Euro in Ostdeutschland: So wenig verdienen Friseur-Azubis im ersten Lehrjahr. Viele Lehrstellen bleiben frei oder unbesetzt. Wer will den Job noch machen? Annemarie ist glücklich. „Jeden Tag mache ich, was mir Spaß macht. Mein Beruf macht mich total zufrieden.“ Die 17-jährige sitzt in einem Friseurladen in der Dresdner Neustadt, der ziemlich gut in das Szenenviertel passt. Bei Friseuren ist die Zahl der freien Lehrstellen besonders hoch Große Fenster zur quirligen Straße hin, Kissenstapel statt Kantinenstuhl, ein Sammelband mit Reportagen statt der „Neuen Woche“. Annemarie ist hier keine Kundin, sondern Friseurin. Oder besser: Sie wird es. Noch steckt sie mitten in ihrer Ausbildung. Aber damit ist Annemarie eine Ausnahme. Denn in Deutschland herrscht Lehrlings-Notstand: Rund 19.000 Lehrstellen im Handwerk sind bisher noch unbesetzt. Das berichtet der Zentralverband des Deutschen Handwerks: „Besonders schwierig ist es für Handwerksbetriebe in den ostdeutschen Bundesländern, neue Azubis zu gewinnen.“ +++ Außerdem bei Orange: Die beliebtesten Ausbildungsberufe in Deutschland – und was du dabei verdienst +++ Während sich in den westdeutschen Bundesländern die Zahl der freien Lehrstellen im Vergleich zum Vorjahr um 5,2 Prozent verringerte, stieg sie im Osten sogar an — um ein Achtel. Besonders groß ist die Leere bei den Stellen im Elektro-, Sanitär- und Friseurgewerbe. Wir wollten wissen, wie haarsträubend die Lage am Ausbildungsmarkt wirklich ist. Die Zahl der Bewerber für eine Ausbildung als Friseur hat stark abgenommen Ein Anruf bei der Handwerkskammer Dresden: Dort scheint es der Friseurberuf gar nicht so schwer haben — zumindest im Kammerbezirk Dresden. Im Gegenteil: Er sei auf Platz zwei der Beliebtheitsskala, sagt die Sprecherin Carolin Schneider. Ein Nachmittag voller Telefonate mit Dresdner Friseurbetrieben scheint das zu bestätigen: Die meisten Ausbildungsbetriebe haben einen oder gar mehrere Lehrlinge gefunden. Doch die Zahl der Bewerber habe massiv abgenommen. „Als ich mich auf eine Lehrstelle beworben hatte, kamen auf eine Stelle 30 Leute“, sagt Friseurmeisterin Simone Hollain. „Heute sind wir froh, wenn wir jemanden finden.“ .@Elyas_Mbarek, wir hätten da einen Tipp. Unter https://t.co/TJxnnPV6ck gibt‘s noch offene Lehrstellen @dashandwerk https://t.co/SlDpXhUebx — ZDH_Handwerk (@ZDH_news) 5. Oktober 2017 Das Gehalt für Friseur-Lehrlinge ist in Westdeutschland mehr als doppelt so hoch wie im Osten Wer nach den Gründen für den Notstand fragt, landet sehr schnell beim Geld. Davon haben viele Auszubildende in Deutschland nämlich nicht allzu viel. Wie viel sie verdienen, hängt laut Carolin Schneider von drei Dingen ab: Branche, Beruf und Region. Während ein Friseur im ersten Lehrjahr im Kammerbezirk Dresden beispielsweise nur 200 Euro monatlich verdient, hat der Zimmerer gut 500 Euro mehr in der Tasche. Es macht aber nicht nur einen Unterschied, was man lernt. Sondern vor allem: wo. Im Westen verdient ein Friseurlehrling im ersten Jahr 494 Euro, mehr als das Doppelte als die Kollegin in Ostdeutschland. „Das ist schon ungerecht“, sagt Annemarie. Sie ist bereits im zweiten Lehrjahr — aber sie verdiene noch immer weniger als 300 Euro monatlich. Trotzdem sagt sie: „Ich mache meine Arbeit so gern, dass ich die geringe Bezahlung hinnehme.“ Doch wie kann es sein, dass ostdeutsche Jugendliche so viel weniger verdienen? Bei der Handwerkskammer bleibt man in dieser Frage ziemlich zurückhaltend: Die Schere zwischen Ost und West bleibe auch 27 Jahre nach der Wende eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“. Aha. Warum verdienen Friseure so wenig Geld? Kammer-Sprecherin Carolin Schneider betont, dass die tariflichen Ausbildungsvergütungen seit Jahren deutschlandweit steigen — im Osten mit 4,9 Prozent 2016 sogar stärker als im Westen. In den meisten Fällen werde im Osten genauso viel gezahlt wie im Westen. Das hilft Annemarie aber auch nicht weiter. Was sagt ihre Chefin dazu? „Natürlich könnten wir mehr zahlen“, sagt Simone Hollain. „Aber das macht ja keiner.“ Sie sieht nicht den einzelnen Friseurbetrieb, sondern die Politik am Zug. +++ Außerdem bei Orange: Mit diesen 4 Tipps findest du deine Traum-Lehrstelle +++ Die hätte den Mindestlohn auch für Auszubildende einführen müssen. Bisher sind Betriebe nur verpflichtet, Azubis „angemessen“ zu vergüten. So steht es im Berufsbildungsgesetz. In den meisten Branchen werden deshalb die Vergütungen von Gewerkschaften und Arbeitgebern festgelegt — aber „angemessen“ ist eben ein dehnbarer Begriff. Bewerbungen für Ausbildungen kommen mit „falschen Erwartungshaltungen“ Doch die schlechte Bezahlung ist nicht die einzige Ursache für den Leerstand bei den Lehrstellen. Eine weitere ist der schlechte Ruf des Handwerks an sich. In der Gesellschaft gehört es mittlerweile zum guten Ton, ein Studium zu beginnen. Im Video: Ein selbsternannter „Friseurblogger“ berichtet von seiner Ausbildung. Die Zahl der Studenten in Deutschland ist in diesem Jahr erstmals über 2,8 Millionen gestiegen. Ein Rekord. Dagegen gibt es nur 1,3 Millionen Jugendliche in Deutschland, die sich Azubi nennen. Das ist der niedrigste Stand seit der Wiedervereinigung. „Viele junge Leute denken sich: Einen Handwerksberuf kann ja jeder machen“, sagt Simone Hollain. Das führe zu völlig falschen Erwartungshaltungen — und einer entsprechend schlechten Qualität der Bewerber. +++ Außerdem bei Orange: Studieren oder Geld verdienen? Beides! Das Duale Studium boomt. +++ Die nämlich habe massiv abgenommen. Teilweise käme die Bewerbung in einem kleinen Briefumschlag. Andere Friseurbetriebe wissen von Jahren zu berichten, in denen allen Lehrlingen gekündigt werden musste. Jemand wie Annemarie, die nicht nur das richtige Händchen mitbringt, sondern auch noch die Bereitschaft, für einen so geringen Lohn zu arbeiten, sei da ein echter Glücksgriff. „Annemarie“, sagt Simone Hollain, „ist wirklich eine Ausnahme.“