Als die Glocken auf dem Grand Place in Brüssel Ein Uhr schlagen, ist Marie Sina noch wach. Es ist die Nacht auf Freitag, seit zwei Stunden zählen Wahlhelfer im fernen England die Stimmzettel des britischen Referendums. Die meisten EU-Parlamentarier und ihre Mitarbeiter liegen längst im Bett, aber die 20-Jährige Praktikantin des FDP-Europaabgeordneten Alexander Graf Lambsdorff kann noch nicht schlafen. Als sie dann doch einnickt, liegt das pro-europäische Lager in Großbritannien vorne. Noch. Ergebnis überrascht Parlamentarier Als Marie am nächsten Morgen aufwacht, steht fest, dass die Europäische Union eines ihrer mächtigsten Mitglieder verliert. In Brüssel beginnt damit ein Tag, den die Kölnerin später als "wahnsinn" beschreiben wird. Überall tauchen Übertragungswagen von Fernsehstationen auf, die Telefone der Politiker klingeln ohne Unterbrechung. Der Schock sitzt tief. Denn mit dem Vereinigten Königreich kehren nicht nur 65 Millionen Einwohner der EU den Rücken. Das Bündnis verliert auch einen seiner Finanzierer. Großbritannien war bisher der drittgrößte „Nettozahler“ der EU. Nettozahler sind die Staaten, die mehr Geld nach Brüssel überweisen als sie von dort bekommen. Nur Deutschland und Frankreich gegeben noch mehr und erhalten noch weniger. Nettozahler halten das System am Laufen, denn ihr Geld kommt ärmeren Mitgliederstaaten zu Gute. Noch größer als die Wirtschaftssorgen ist in Brüssel aber die Furcht vor einem politischen Dominoeffekt. Andere Staaten könnten auf die gleiche Idee kommen und ihr eigenes Referendum abhalten. In Frankreich zum Beispiel bestärkt die Entscheidung der Briten gerade die rechtsnationalistische Partei Front National, die für einen französischen Austritt aus der EU plädiert. So absurd der „Frexit“ auch klingt, durch die gestrige Entscheidung ist er ein stückweit wahrscheinlicher geworden. Marie wusste von alldem noch nichts, als sie am Freitag morgen aufwachte. Am Abend zuvor hatte sie noch erwogen, zur „Champagner bis zum Brexit“-Party des Satirikers Martin Sonneborn zu gehen. Inzwischen musste sie erkennen: Aus dem Scherz ist bittere Realität geworden.